Zwischen dem sensationellen Sieg Bulgariens gegen Frankreich im November 1993 und dem EM-Qualifikationsspiel in Berlin gegen Deutschland im November 1995 liegen zwei Jahre, die das bulgarische Nationalteam in seine erfolgreichste Phase führten und gleichzeitig den deutschen Fußball nachhaltig prägten. Diese Zeitspanne markiert einen Wendepunkt im Selbstverständnis des DFB und in der Entwicklung des deutschen Fußballs.
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Text: Björn Leffler
Nach dem sensationellen 2:1-Last-Minute-Sieg der Bulgaren am 17. November 1993 im Pariser Prinzenpark war die Qualifikation für die Weltmeisterschaft 1994 in den USA perfekt, während die Franzosen, Gastgeber der WM 1998, zu Hause bleiben mussten.
Die Bulgaren starteten damit zum sechsten Mal bei einem WM-Turnier. Bis auf das Erreichen des Achtelfinals 1986 waren sie dabei stets in der Vorrunde ausgeschieden. Auch für das Turnier in den USA sahen die Experten Bulgarien als Außenseiter, dem trotz einiger bemerkenswerter Einzelspieler kaum Chancen auf das Weiterkommen eingeräumt wurden.
Bulgarien bei der WM 1994: Ein harter Auftakt und die erste Wende im Turnier
Der Start ins Turnier verlief dann wie erwartet: Gegen die starken Super Eagles aus Nigeria kassierten die Bulgaren eine deutliche 0:3-Niederlage, die den Skeptikern Recht zu geben schien. Doch bereits im zweiten Spiel gegen die Griechen gelang Bulgarien ein überzeugendes 4:0, bei dem Stoitschkow zweimal und Letschkow einmal trafen. Dieser Sieg veränderte die Perspektive auf die Bulgaren im Turnier.
Entscheidend für das Weiterkommen war nun das letzte Vorrundenspiel gegen den Vizeweltmeister Argentinien, der nach dem Doping-Skandal auf Diego Maradona verzichten musste. Das Spiel im Cotton Bowl Stadium von Boston markierte den endgültigen Wendepunkt für die Bulgaren im Turnier: Mit Toren von Stoitschkow in der 61. Minute und Sirakow in der Nachspielzeit besiegte Bulgarien Argentinien verdient mit 2:0 und sicherte sich damit den Einzug ins Achtelfinale.
Vor 71.000 Zuschauern im Giants Stadium: Bulgariens packendes Achtelfinale gegen Mexiko
Im Achtelfinal-Duell gegen Mexiko, das im Giants Stadium vor über 71.000 überwiegend mexikanischen Zuschauern stattfand, glich Garcia Aspe die frühe Führung der Bulgaren in der 18. Minute aus. Zuvor hatte der genial aufspielende Stoitschkow bereits das 1:0 erzielt. In der heißen Nachmittagssonne von New Jersey hielt Bulgarien das Duell bis ins Elfmeterschießen offen – und bewies dort die besseren Nerven, was den Weg ins Viertelfinale ebnete.
Die bulgarische Nationalmannschaft hatte noch nie zuvor ein Viertelfinale erreicht und stand nun Titelverteidiger Deutschland gegenüber, einem der Turnierfavoriten. Viele Experten betrachteten die deutsche Nationalelf sogar als noch stärker als jene, die vier Jahre zuvor Weltmeister geworden war. Neue Spieler wie Matthias Sammer und Andreas Möller ergänzten das Team, allerdings vertraute Bundestrainer Vogts weiterhin auf erfahrene, altbewährte Spieler, deren beste Jahre zum Teil bereits hinter ihnen lagen.
Deutschland gegen Bulgarien in New Jersey: Überraschende Wendung im Viertelfinale
Das Viertelfinale fand am 10. Juli 1994 in East Rutherford, New Jersey, vor 72.000 Zuschauern statt. Italien hatte am Vortag Spanien besiegt, und die Deutschen schienen bereits an ein Halbfinale gegen Italien zu denken. Nach einem umstrittenen Foulelfmeter brachte Matthäus Deutschland in Führung, doch nur wenig später erzielte Stoitschkow per Freistoß den Ausgleich. Letschkow sicherte mit einem Kopfball nur drei Minuten später den sensationellen 2:1-Sieg für Bulgarien und warf Deutschland damit aus dem Turnier.
Das Viertelfinal-Aus war für Deutschland ein bitterer Rückschlag und führte zu erheblichen Diskussionen. Trainerteam und Verband hatten sich zu sehr auf ihre erfahrenen Spieler verlassen, ohne auf die sich entwickelnde Dynamik im Weltfußball zu reagieren. Die Vernachlässigung der Nachwuchsförderung rächte sich in East Rutherford, und die “deutschen Tugenden” allein reichten nicht aus, um eine engagierte bulgarische Elf zu besiegen.
Stoitschkow gegen Baggio: Bulgariens historisches Halbfinale gegen Italien
Für Bulgarien bedeutete der Einzug ins Halbfinale den größten Erfolg in der Fußballgeschichte des Landes. Dort wartete Italien mit Superstar Roberto Baggio, das nach dem Viertelfinalsieg gegen Deutschland auf der Hut war. Baggio erzielte zwei frühe Tore, und Bulgarien gelang nur noch ein Anschlusstreffer durch Stoitschkow. Italien ließ sich den Sieg nicht mehr nehmen und zog ins Finale ein, während Bulgarien sich dem Spiel um Platz 3 stellte.
Im Spiel um Platz 3 traf Bulgarien auf Schweden und musste sich den stark aufspielenden Skandinaviern mit 0:4 geschlagen geben. Dennoch war der vierte Platz ein sensationeller Erfolg, der in der Fußballwelt große Anerkennung fand und als das beste Ergebnis in der Geschichte der bulgarischen Nationalmannschaft in die Geschichte einging.
Nach der WM: Deutschlands Neubeginn in der EM-Qualifikation
Das enttäuschende Abschneiden veranlasste den DFB zu einem „Neubeginn“ und zur Integration junger Talente. Spieler wie Christian Ziege, Mario Basler und Oliver Bierhoff erhielten die Chance, sich in der Nationalmannschaft zu beweisen, während Altstars wie Brehme, Völler und Buchwald ihren Rücktritt erklärten. Die ersten Spiele der EM-Qualifikation verliefen erfolgreich, und das Auswärtsspiel am 7. Juni 1995 gegen Bulgarien in Sofia galt als erster großer Test für das neuformierte deutsche Team.
Das ausverkaufte Stadion und die aufgeheizte Atmosphäre in Sofia schufen die Bühne für einen echten Schlagabtausch. Die Deutschen gingen früh durch Klinsmann und Strunz mit 2:0 in Führung, doch Bulgarien kam zurück: Zwei Elfmeter, verwandelt von Stoitschkow, führten zum Ausgleich, und Emil Kostadinow erzielte kurz darauf das 3:2. Der erneute Triumph über Deutschland sorgte für Jubelstürme in Bulgarien und festigte den Ruf der bulgarischen Mannschaft als starke Kraft im europäischen Fußball.
Berlin 1995: Deutschlands Revanche gegen Bulgarien im Olympiastadion
Im November 1995 stand das Rückspiel in Berlin an, das mit 76.000 Zuschauern ausverkaufte Olympiastadion bot die Kulisse für eine hitzige Begegnung. Deutschland war entschlossen, die vorherigen Niederlagen gegen Bulgarien vergessen zu machen, und die Zuschauer erwarteten nichts weniger als einen Sieg. Die Deutschen zeigten sich kämpferisch und erarbeiteten sich zahlreiche Chancen, doch es waren die Bulgaren, die nach der Pause durch Stoitschkow in Führung gingen.
Doch die deutsche Mannschaft bewies an diesem Abend Moral: Nach einem Abwehrfehler der Bulgaren erzielte Klinsmann den Ausgleich, und wenig später brachte Häßler mit einem perfekt verwandelten Freistoß Deutschland in Führung. Klinsmann machte schließlich mit dem 3:1 alles klar, und das Olympiastadion feierte eine kämpferische Leistung, die als wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Europameisterschaft 1996 galt.
Bulgariens goldene Generation und Deutschlands Reformkurs
Die „Goldene Generation“ Bulgariens um Spieler wie Stoitschkow und Letschkow beeindruckte Europas Fußballwelt, ihre Spieler sicherten sich Plätze bei internationalen Top-Klubs. In Deutschland hingegen führte das Ausscheiden von 1994 zu einem Umdenken in der Nachwuchsförderung, das viele Jahre später Früchte tragen sollte. Die systematische Förderung und der Aufbau von Leistungszentren mündeten 2014 im vierten Weltmeistertitel in Brasilien.
Oftmals wird übersehen, dass das deutsche Nachwuchsfördersystem von Berti Vogts bereits 1999 angestoßen wurde. Unter der späteren Leitung von Jürgen Klinsmann und Joachim Löw wurde es konsequent weitergeführt und formte eine neue Generation deutscher Spitzenspieler.
Bulgarien und Deutschland in den 90ern: Das Vermächtnis beider Teams im europäischen Fußball
Bulgariens goldene Generation, angeführt von Stoitschkow, Letschkow und Kostadinow, fand in den europäischen Top-Ligen ihre Bühne und bleibt bis heute eine Erinnerung an eine der besten Mannschaften des Landes. Während Bulgarien seit den 1990er Jahren selten an die großen Erfolge anknüpfen konnte, trösten sich die Fans mit den Erinnerungen an die glorreichen Tage dieser Mannschaft.
Deutschland hingegen profitierte langfristig von den Konsequenzen des Umdenkens nach 1994. Diese beiden Mannschaften haben eine ganz eigene Geschichte im Fußball geschrieben und einen bleibenden Eindruck hinterlassen – auf die eine oder andere Weise.
Wembley: Im Sommer 1996 wurde Deutschland zum dritten Mal Europameister
An jenem denkwürdigen Abend im November 1995 konnte man den Wettstreit zweier ungleicher Kombattanten im Berliner Olympiastadion hautnah miterleben. Niemand, der dieses Spiel im Stadion gesehen hat, wird die rauschhafte Atmosphäre, die auf den Rängen herrschte, wieder vergessen haben.
Beide Teams qualifizierten sich letztlich für die EURO 1996 in England. Während die Bulgaren nicht an ihr großartiges Turnier in den USA anknüpfen konnten und nach der Vorrunde nach Hause fuhren, wurde Deutschland in Wembley Europameister. Den moralischen Grundstein für diesen hart erkämpften Triumph hatten Berti Vogts und seine Spieler an einem kühlen Herbstabend in Berlin gelegt.




