Berlin und die Derby-Lücke: Die Fußball-Isolation der Hauptstadt

Als Union Berlin im Mai 2019 in die Bundesliga aufstieg, erlebte die Hauptstadt ein Comeback des Berliner Derbys. Nach jahrzehntelanger Isolation von Hertha BSC gab es nun zwei Berliner Vereine in der 1. Bundesliga – allerdings nicht lang. Die Geschichte der Berliner Derbys ist eine schwierige.

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Text: Björn Leffler

 

Als der 1. FC Union im Mai 2019 im Relegations-Rückspiel gegen den VfB Stuttgart den langersehnten Aufstieg in die 1. Bundesliga perfekt machen konnte, wurde ein lange vorherrschendes Ungleichgewicht getilgt, welches in Berlin für viele Jahrzehnte vorgeherrscht hatte.

Endlich gab es in Berlin also zwei große, wettbewerbsfähige Mannschaften, und endlich sollte es auch ein Berliner Derby in der höchsten deutschen Spielklasse geben. Das war etwas, was es für viele Jahre zuvor schlicht und ergreifende nicht gegeben hatte.

Bundesliga-Gründung 1963: Hertha BSC war (West-) Berlins Vertreter im Oberhaus

Die Bundesliga-Geschichte Berlins war bis dahin nämlich eine schwierige. Diese Feststellung ließe sich in verschiedene Richtungen und Ebenen weiterverfolgen und durchargumentieren. Wir wollen uns hierbei aber einmal um die Rolle Berlins im Zusammenspiel mit den übrigen Mannschaften des Bundesliga-Tableaus beschäftigen.

Als die Bundesliga 1963 gegründet wurde, war Hertha BSC als Gründungsmitglied mit von der Partie, obwohl die Stadt Berlin, von Alliierten besetzt und in eine Ost- und eine West-Zone geteilt, vom Staatsgebiet der DDR umgeben war. Aber es war natürlich ein politisches Signal der westdeutschen Bundesliga, West-Berlin als Teil der damaligen BRD mit in den Kreis der neu gegründeten Profi-Liga aufzunehmen.

Hertha BSC stellte in der Bundesliga einen bis heute gültigen Zuschauerrekord auf

Hertha BSC spielte in den ersten Jahren eine gute Rolle, stellte einen noch heute gültigen Zuschauerrekord auf (88.075 Zuschauer kamen 1969 ins Olympiastadion und sahen ein 1:0 gegen den 1. FC Köln), verstrickte sich dann allerdings wie viele andere Vereine auch im Bundesliga-Skandal Anfang der 1970er Jahre und musste einen Zwangsabstieg verkraften.

Der Verein erholte sich davon – zumindest sportlich – relativ schnell und stellte nach dem raschen Wiederaufstieg in der zweiten Hälfte der 70er Jahre eine Mannschaft, die zu den erfolgreichen Teams des Jahrzehnts gehörte. Zweimal gelang der Einzug ins DFB-Pokalfinale, zweimal unterlagen die Blauweißen knapp. Eine Vize-Meisterschaft, drei dritte Plätze und zudem der Einzug ins Halbfinale des UEFA-Cups 1979, in dem man denkbar knapp an Roter Stern Belgrad scheiterte.

Hertha war sportlich etabliert, aber geographisch isoliert

Man könnte meinen, Hertha BSC war ein etabliertes und selbstverständliches Mitglied der westdeutschen Bundesliga. Und das mag auch so gewesen sein, nur waren die Berliner aufgrund der politischen Weltenlage immer auch in gewisser Weise isoliert vom Rest, allein durch die schwierige und mitunter bedrohliche Insellage der “Frontstadt”.

Durch die Teilung in Ost- und Westdeutschland etablierte sich derweil seit den 1960er Jahren in der 1. Bundesliga eine westdeutsche Vereins- und Fußballkultur, die Rivalitäten im Norden, am Rhein, im Ruhrgebiet und im Süden zutage förderte. Rivalitäten, die von von Fans, Vereinen und Medien zum geliebten Streitthema gemacht wurden und die in den allermeisten Fällen bis heute Bestand haben.

Ab Anfang der 1980er Jahre verlor Hertha BSC den Anschluss an die Bundesliga-Elite

Als Hertha BSC in den 80er Jahren in den Niederungen der 2. Liga und der Regionalliga verschwand und sich – mit wenigen Ausnahmen – erst 1997 wieder im Oberhaus etablieren konnte, verlor der Verein vorerst den Anschluss und galt lange als nicht gesellschaftsfähige graue Maus aus dem Berliner Westend. Der Verein verpasste es seinerzeit auch, die Euphorie der Wiedervereinigung zu nutzen, um neue Zuschauer für den Verein zu gewinnen, da der Verein 1989/90 zwar in die Bundesliga aufstieg, im Folgejahr aber chancenlos war und als Tabellenletzter den Klassenerhalt klar verpasste.

Als Hertha dann, in den ausgehenden 90er Jahren, endlich wieder Bundesliga-Fußball spielen durfte, war die Euphorie dann aber so groß wie zuletzt in den erfolgreichen 70er Jahren. Die Situation in der Bundesliga hatte sich verändert, nun spielten auch Mannschaften aus dem ehemaligen Osten mit, allerdings ist schon die Bezeichnung Mannschaften nicht ganz zutreffend. In der Zeit, als Hertha der Aufstieg gelang, spielte mit Hansa Rostock genau eine Ost-Mannschaft in der 1. Bundesliga.

Die 90er Jahre: Der Osten war nur marginal in der Bundesliga vertreten

Hertha BSC erfand sich in dieser Zeit ein stück weit neu und gewann viele Fans auch aus dem Ostteil der Stadt und dem Umland dazu, denn endlich gab es Bundesliga-Fußball in der noch jungen Hauptstadt zu sehen, und die Ost-Berliner Vereine wie der 1. FC Union und BFC Dynamo waren vorerst in der fußballerischen Bedeutungslosigkeit verschwunden.

Regional gesehen war Hertha jedoch noch immer genauso isoliert wie vor dem Mauerfall, in der näheren Umgebung gab es tatsächlich nur die Stadt Rostock, in der ebenfalls Bundesliga-Fußball geboten wurde. Und so wurden die Spiele gegen Hansa von Beginn an zu einer Art Derby, welches von beiden Seiten jeweils intensiv geführt (auf dem Platz) und besungen wurde (auf den Rängen).

Ein Derby? Hansa Rostock gegen Hertha BSC in den 1990er und 2000er Jahren

Zum ersten Spiel gegen Rostock kamen 1998 nicht weniger als 71.000 Zuschauer, im Jahr darauf waren es gar 76.000, und auch in den folgenden Jahren war das Spiel immer eine der bestbesuchten Begegnungen der Saison (zum Auftaktspiel der Saison 1999/2000 kamen 65.000 Zuschauer und sahen ein 5:2 gegen Hansa). Zudem war das Duell eine enorm beliebte Auswärtsfahrt. Da Rostock in weniger als zwei Stunden erreichbar war, pilgerten nicht selten mehr als 5.000 Hertha-Fans an die Ostsee.

Das letzte dieser Duelle gab es 2008, ein 0:0 in Rostock, vor ausverkauftem Haus. Hansa stieg in dieser Saison letztlich ab, und Hertha war um einen attraktiven Nachbarverein ärmer. Einige Jahre zuvor jedoch, in der Saison 2000/01, schlug ein anderer Ost-Verein in der Bundesliga auf, Energie Cottbus.

Ab 2001 gab es in der Bundesliga erstmals ein Berlin-Brandenburger Derby

Naturgemäß wurde das Berlin-Brandenburger Derby, welches es – wie es auch mit Hansa Rostock der Fall war – aufgrund der deutschen Teilung zuvor nie gegeben hatte, zu einem spannenden Schlagabtausch der Fußballkulturen. In diesem Fall war Hertha der Goliath im ungleichen Vergleich mit dem Cottbuser David.

Ein Spiel, welches polarisierte und stets von einem hohen Polizeiaufgebot begleitet wurde. Der FC Energie fügte dem großen Bruder aus Berlin in den insgesamt zwölf Bundesliga-Begegnungen die ein oder andere empfindliche Niederlage zu, unter anderem führte das 1:0 in Cottbus im Februar 2002 zur vorzeitigen Entlassung von Hertha Trainer-Legende Jürgen Röber.

2002: Hertha-Trainer Jürgen Röber wurde nach einem 0:1 bei Energie Cottbus vorzeitig entlassen

Aber auch Hertha konnte wichtige Siege gegen die Lausitzer verbuchen. Der wohl markanteste war das 3:1 im Stadion der Freundschaft in der Saison 2008/09, als den Berlinern nach 0:1-Rückstand ein 3:1 gelang, nach zwei herrlichen Toren von Andrej Voronin. Nach diesem Spiel standen die Berliner mit vier Punkten Vorsprung auf dem ersten Tabellenplatz, während es für Energie Cottbus in Richtung 2. Liga ging.

Letztmals standen sich die Teams in der Zweitligasaison 2012/13 im Berliner Olympiastadion gegenüber, vor stolzen 63.000 Zuschauern. Der Weg dieser beiden Vereine trennte sich bekanntermaßen, Hertha stieg in diesem Jahr wieder in die Liga eins auf, Cottbus wenig später in die dritte und später in die Regionalliga ab. Nun sind die Lausitzer nach einer längeren Leidenszeit zurück im Profifußball.

Bühne 2. Bundesliga: Hertha BSC und Union Berlin spielten erstmals im Derby gegeneinander

In den zwei Zweitligajahren eröffnete sich dann plötzlich ein völlig neues, elektrisierendes Derby-Gefühl in der Stadt: Hertha BSC und der 1. FC Union spielten erstmals in einer gemeinsamen Liga und trafen daher endlich einmal auf Pflichtspielebene aufeinander.

Es wurden vorerst vier Spiele, die mittlerweile legendären Charakter besitzen. Zweimal trafen die Teams im ausverkauften Olympiastadion aufeinander, zweimal in der überfüllten Alten Försterei, und jeweils gab es dramatische Höhe- und Tiefpunkte auf beiden Seiten. Und es gab eine begeisternde Atmosphäre während der Spiele und um sie herum.

Zuletzt hatte es in den 1970er Jahren “echte” Berliner Stadtderbys in der Bundesliga gegeben

Ein bedeutendes Berliner Stadtderby hatte es für Hertha BSC zuletzt in den 70er Jahren gegeben, als es Tennis Borussia gelang, für zwei Jahre in der Bundesliga mitzuspielen. Einmal gewann TeBe, dreimal ging Hertha BSC als Sieger vom Platz.

Für den 1. FC Union waren Stadtderbys hingegen keine Seltenheit, sondern die absolute Regel. Die Spiele in der DDR-Oberliga gegen den noch heute verhassten Rivalen aus Hohenschönhausen, den BFC Dynamo, gehörten zu den heißesten und auch gewalttätigsten Derbys in der Geschichte des ostdeutschen Fußballs. Nach der Wiedervereinigung verlor sich auch dieses Derby, da beide Vereine nur noch selten in der gleichen Liga gegeneinander antreten durften.

Für den 1. FC Union waren Berliner Derbys die absolute Regel

Darüber hinaus gab es für die Fans des 1. FC Union in Zeiten der Oberliga eine Reihe weiterer “gefühlter” Derbys, die sie häufig nach Dresden, Zwickau, Rostock oder aber (und insbesondere) nach Leipzig führten. Dass sich diese Spiele vor allem ab Ende der 70er Jahre zu unvorstellbaren Gewaltarien auf beiden Seiten entwickelten, soll hier nicht unerwähnt bleiben.

Reizvolle und stimmungsvolle Spiele waren es aber allemal. Immerhin konnte der 1. FC Union in den Jahren seiner Zweitligazugehörigkeit wieder vermehrt spannende Duelle gegen alte Rivalen wie Erzgebirge Aue, Dynamo Dresden oder Energie Cottbus bestreiten. Und gegen einen ganz neuen Rivalen: RB Leipzig.

Mit RB Leipzig hat sich für den 1. FC Union ein ganz neuer Rivale aufgetan

Die Spiele gegen die Leipziger gehören für die “Eisernen”, da Hertha BSC nun bereits im zweiten Jahr in der 2. Bundesliga spielt, zu den Partien, die so eine Art “gefühltes” Derby sind, da der Anfahrtsweg nicht weit ist – und der Gegner ausgesprochen unbeliebt. Doch tatsächlich ist für viele Union-Anhänger noch immer umstritten, überhaupt zum Auswärtsspiel nach Leipzig zu fahren, trotz aller präsentierten Proteste gegen die Kommerzialisierung des Fußballs.

Als Hertha und Union dann endlich in der 1. Bundesliga gegeneinander antreten konnten, kam erst einmal die Corona-Pandemie und bremste die Zuschauer bitter aus. Es brauchte eine Weile, bis sich Union und Hertha in der vollen Alten Försterei und im ausverkauften Olympiastadion duellieren konnten.

Union gegen Hertha: Die Corona-Pandemie verdarb den Fans die ersten Derbys 

Die Stimmung, die sich bei diesen Aufeinandertreffen entfaltete, war dann aber mitunter geradezu atemberaubend – und doch nur eine kurze Momentaufnahme, denn nach Unions langer Abstinenz, der Corona-Pandemie und nur wenigen Spielen mit Zuschauerbeteiligung ist nun Hertha eine Klasse tiefer gerutscht – und die Bundesliga um ein weiteres, reizvolles Derby ärmer.

Besonders in Erinnerung geblieben ist von den Berliner Bundesliga-Duellen der letzten Jahren wohl der fulminante 4:1-Auswärtssieg der Unioner am 29. Spieltag der Saison 2021/22, der mehr als deutlich veranschaulichte, dass sich die Kräfteverhältnisse in Berlin geändert hatten.

Nun ist Union in der 1. Bundesliga geographisch isoliert, wie einst Hertha BSC

Hertha schaffte zwar mit Müh und Not den Klassenerhalt, stieg dann jedoch in der Folgesaison ab, nach einer weiteren Heimniederlage im Derby gegen die “Eisernen” aus Köpenick. Nun ist es der 1. FC Union, der sich in der geographischen Isolation der Bundesliga bewegt.

So gesehen hat der Verein aus dem Berliner Südosten die Rolle eingenommen, die Hertha BSC jahrzehntelang übernommen hatte. Die Bundesliga krankt weiter daran, dass es viel zu wenige ehemalige Oberliga-Vereine geschafft haben, sich im Profifußball der Nachwendezeit zu etablieren. Es ist der Fußballstadt Berlin daher zu gönnen, dass es bald wieder “echte” Derbys gibt, im Idealfall in der 1. Bundesliga.

 

Jahrzehnte der Isolation: In den 1970er Jahren gehörte Hertha BSC zur Spitze der Bundesliga, war geographisch aber durch die Teilung Deutschlands und die Berliner Mauer abgegrenzt – und ohne Derby. / © Foto: IMAGO / Kicker / Liedel

 

Letzter Derbysieger im Olympiastadion: Das damals ausgesprochen erfolgreiche Team des 1. FC Union Berlin in der Saison 2022/23. / © Foto: IMAGO / Matthias Koch

 

Quellen: IMAGO, Hertha BSC, 1. FC Union, DER PANENKA 

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